NO-GAS
Lebensrettendes Medikament nicht mehr bezahlbar?
Autor: Thomas Reutter
Als wir das erste Mal von der jetzt folgenden Geschichte hörten,
haben wir in der Redaktion den Kopf geschüttelt. Thomas Reutter war
einem Konzern auf der Spur, der, so der Verdacht, seine Monopolstellung
missbraucht, um sein Produkt rücksichtslos zu verteuern.
Das alleine wäre schon nicht in Ordnung. Zum Skandal aber wird
die Geschichte, wenn man erfährt, um welches Produkt es sich handelt.
Es geht um das Gas Stickstoffmonoxyd. Und das wird unter anderem eingesetzt
in Krankenhäusern, zum Beispiel um Frühgeborenen, wie dem kleinen
Marco, das Leben zu retten.
Bericht:
Der kleine Marco, noch keinen Tag alt, kämpft um sein Leben. Er
kam zu früh zur Welt, liegt auf der Intensivstation für Neugeborene
in der Heidelberger Universitätsklinik. Seine Lungen sind noch klein
und schwach. Deshalb braucht Marco ein Gas zur Beatmung. Stickstoffmonoxyd
rettet ihn vor dem Erstickungstod.
O-Ton, Prof. Johannes Pöschl, Universitätsklinik Heidelberg:
»Stickstoffmonoxyd war lebenswichtig für dieses Kind in
den ersten Lebensstunden. Wir sind jetzt schon nach 12 Stunden auf dem
Weg der Entwöhnung von diesem Gas.«
So wie Marco brauchen in Deutschland Hunderte Babys pro Jahr Stickstoffmonoxyd,
das sogenannte NO, um zu überleben. Doch jetzt können sich die
Krankenhäuser die Behandlung nicht mehr leisten, denn die Kosten dafür
sind schlagartig um das 50fache angestiegen. Der Anbieter hat den Preis
um sage und schreibe 5.000 Prozent in die Höhe getrieben. Eine ausweglose
Kostenfalle für die Klinik.
O-Ton, Joachim Halter-Lundbeck, Universitätsklinik Heidelberg:
»Schlichtweg eine Katastrophe. Die Frühchenstation hat ungefähr
einen
Arzneimittelverbrauch von 125.000 Euro im Jahr. Der würde sich
verdoppeln. Das heißt, das jetzt vorhandene Budget würde nur
ausreichen, um das NO-Gas einzukaufen. Für alle anderen Medikamente
wäre kein Geld mehr da.«
NO-Gas sprengt den Etat. Doch es gibt, so die Ärzte, keine Alternative.
O-Ton, Prof. Johannes Pöschl, Universitätsklinik Heidelberg:
»Aus unserer Sicht ist das NO-Gas nicht verzichtlich. Es werden
Kinder daran sterben, wenn wir das nicht in adäquater preislicher
Situation haben und letztendlich in allen Intensivstationen zur Verfügung
haben.«
Unvorstellbar. Es werden Kinder sterben, wenn der Preis nicht fällt,
sagen Ärzte. Sie müssten dann selektieren, wer bekommt das lebensrettende
Gas und wer nicht. Auch im Deutschen Herzzentrum in Berlin wird NO täglich
gebraucht. Dieser Patient, ein 64 Jahre alter Mann, ist darauf angewiesen.
Er bekommt ein Herz verpflanzt. Das Gas entlastet seine Lunge und unterstützt
sein neues Herz in den entscheidenden ersten Stunden. Für das Deutsche
Herzzentrum wäre diese Therapie nach dem neuen Preis nicht mehr finanzierbar.
Also auch bei älteren Patienten müsste eine
Auswahl getroffen werden, wer das rettende Gas erhält.
Der Preistreiber ist die Linde AG. Der Konzern hat ein Monopol auf
die medizinische Anwendung. Gas ist der wichtigste Unternehmensbereich
der Linde AG und der Konzern zahlt hohe Dividende. Die Konzernleitung setzt
laut Firmenwerbung auf einen ertragsorientierten Wachstumskurs. Marktführerschaft
weltweit.
Er ist der Chef der Linde AG "Wolfgang Reitzle. Ein Interview gibt
er uns nicht. Reitzle lässt seinem Pressesprecher den Vortritt.
Frage: Erfahrene Ärzte sagen uns: Wenn der Preis weiterhin so
hoch bleibt, dann werden Kinder sterben. Wie gehen Sie damit um?
O-Ton, Uwe Wolfinger, Linde AG:
»Das ist ja die entscheidende Frage bei diesem... also ihre...
«
Frage: Ja. Was sagen Sie dazu?
Bisher verwendeten die Kliniken industriell hergestelltes NO-Gas. Damit
wurde Jahre lang Leben gerettet, und dieses Gas war spottbillig.
O-Ton, Uwe Wolfinger, Linde AG:
»Also bei der Preisdiskussion werden aus meiner Sicht Äpfel
mit Birnen verglichen. Das sind zwei unterschiedliche Produkte. Deshalb
kann man auch gar nicht von einer Preissteigerung sprechen. Früher
gab es ein Produkt, was ein industriell hergestelltes Gas war. Heute haben
wir ein Medikament. Das sind zwei unterschiedliche Welten.«
O-Ton, Prof. Johannes Pöschl, Universitätsklinik Heidelberg:
»Die Qualität des NO-Gases, das uns von Linde angeboten
wird, ist identisch. So dass ein Preisanstieg nicht über die Besserung
der Qualität zu erklären ist.«
Wenn Ärzte keinen Qualitätsunterschied sehen, wie kann dann
die Linde AG den Preis derart in die Höhe treiben? Die Erklärung:
Der Konzern hat das alleinige Patentrecht gekauft. Die medizinische Anwendung
von billigem Industriegas lässt Linde gerichtlich verbieten. Nur Linde-Gas
darf noch eingesetzt werden. Damit sichert sich der Konzern sein Monopol.
Europaweit.
O-Ton, Joachim Halter-Lundbeck, Universitätsklinik
Heidelberg:
»Man muss es ja wirklich mal sagen: Das ist ein Mitnahmeeffekt,
ja. Sie beuten das Gesundheitssystem aus, weil sie wissen, sie
haben ein Monopol.«
In der Schweiz ermittelt deshalb seit zwei Monaten die Eidgenössische
Preisüberwachungsbehörde gegen Linde.
O-Ton, Rudolf Strahm, Eidgenössische Preisüberwachung:
»Dieses Produkt war schon immer, seit mindestens zehn Jahren im
Gebrauch. Es galt als Medizinalprodukt, aber nicht als
Medikament. Und erst durch die Patentierung respektiv durch behördlich-administrative
Maßnahmen konnte die Firma diesen Preissprung ausnützen.
Und deswegen müssen wir überprüfen, ob der Preis missbräuchlich
erhöht worden ist.«
Und wie sieht es in Deutschland aus? Das Bundeskartellamt untersuchte den Fall, konnte aber einen Monopolmissbrauch bislang nicht feststellen. Merkwürdig. Ein Interview wird uns verweigert.
Auch Ulla Schmidt, die Bundesgesundheitsministerin, haben wir um eine Stellungnahme gebeten. Doch statt eines Interviews nur Verständnis für die Firma. Die habe schließlich hohe Entwicklungskosten gehabt.
O-Ton, Uwe Wolfinger, Linde AG:
»Seit zehn Jahren investieren wir in die Forschung und Entwicklung
in diesem Bereich, um dieses Medikament tatsächlich zur
Anwendung zu bringen. Allein in den letzten zehn Jahren haben wir mehr
als 200 Millionen Euro dafür investiert.«
O-Ton, Joachim Halter-Lundbeck, Universitätsklinik Heidelberg:
»Man muss dazu sagen, dieses Gasgemisch ist schon seit Jahrzehnten
auf dem Markt, denn es wurde für andere technische Zwecke verwendet.
Die Anwendung am Menschen ist auch etabliert. Das heißt, schon weit
über zehn
Jahre. Das heißt, es lagen sowieso Anwendungsbeobachtungen, Studien
vor.«
Alleine in Heidelberg wurden in der Grundlagenforschung zur NO-Behandlung
sieben Doktorarbeiten geschrieben. Professor Johann Motsch hat sie betreut.
O-Ton, Prof. Johann Motsch, Universitätsklinik Heidelberg:
»Wir haben 1991 begonnen, uns wissenschaftlich mit inhaliertem
Stickstoffmonoxyd ganz intensiv zu beschäftigen.«
Frage: Wann 1991?
O-Ton, Prof. Johann Motsch, Universitätsklinik Heidelberg:
»Im Herbst 1991.«
Und das ist wichtig. Denn das Patent auf die NO-Behandlung wurde erst
im Dezember 1991 angemeldet. Also nachdem das Verfahren bereits in Heidelberg
und anderswo bekannt war. Deshalb wird um die Patenterteilung seit Jahren
juristisch gestritten. Die Patentlizenz und das gesamte NO-Gasgeschäft
erwarb die Linde AG ohnehin erst 2001, als die wissenschaftliche Vorarbeit
längst geleistet war.
O-Ton, Prof. Johannes Pöschl, Universitätsklinik Heidelberg:
»Stellen Sie sich vor: Wir trinken alle Kamillentee. Und jetzt
kommt eine Firma auf die Idee, ein Patent auf Kamillentee zu
entwickeln und zu beantragen, um letztendlich die Magen-Darm-Störung
zu behandeln. So ähnlich sehe ich auch die Handhabe der Linde AG bezüglich
des Gases, was seit Jahren als Industriegas oder auch in therapeutischer
Form
angewendet wird.«
Eine super Geschäftsidee. 1.000 Euro für einen Beutel Kamillentee, patentrechtlich geschützt. Der einzige Unterschied: Auf Kamillentee kann man verzichten, bei NO-Gas geht es um Menschenleben.
Links
Deutschland:
Linde AG
http://www.linde.de/
Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung
http://www.bmgs.bund.de
Bundeskartellamt
http://www.kartellamt.de
Schweiz
http://www.preisueberwacher.ch