"Epochaler Triumph der Forscher"
Das menschliche Erbgut ist weitgehend kartiert. Diesen
Erfolg verkündeten zwei bislang rivalisierende
Forschergruppen gestern Montag gemeinsam.
Von Ignaz Staub, Washington
Präsident Bill Clinton war sichtlich gut gelaunt, als er am
Montagmorgen im East Room des Weissen Hauses unter
Applaus bekannt gab, dass es einem öffentlichen
internationalen und einem privaten amerikanischen Team von
Forschern gelungen ist, den genetischen Code des Menschen
zu 97 Prozent zu entschlüsseln. Als kündigte er einen Erfolg
bei Friedensverhandlungen an, wurde Clinton bei seinem
Auftritt von den Leitern der beiden rivalisierenden
Forschergruppen flankiert.
Erfolg nach zehn Jahren
Via Satellit war auch der britische Premierminister Tony Blair
aus London zugeschaltet, wo bereits Stunden zuvor eine
Pressekonferenz des internationalen Forschungsteams
stattgefunden hatte. Am Humangenom-Projekt, das vor zehn
Jahren begann, beteiligen sich mehr als 1000 Wissenschaftler
aus insgesamt 18 Staaten, darunter die USA,
Grossbritannien, Deutschland, Frankreich, Japan und China.
Francis Collins, Leiter der Humangenom-Forschung am
öffentlichen National Institute of Health, und Craig Venter,
Direktor der Biotechfirma Celera Genomics, hatten sich zuvor
erbittert darum gestritten, welchem Team die Ehre zufallen
sollte, als Erstes den Durchbruch bei einem Projekt geschafft
zu haben, das von Kommentatoren mit der medizinischen
Version der Mondlandung verglichen wurde. Eingefädelt hatten
es andere, aber Clinton war derjenige, der ankündigen durfte,
dass sich die öffentliche wie die private Forschungsgruppe nun
verpflichtet hätten, im Lauf des Jahres ihre Daten gemeinsam
zu veröffentlichen. Das Unternehmen Celera erklärte, es wolle
seine Forschungsergebnisse im Herbst der Öffentlichkeit
zugänglich machen.
Clinton lobt und mahnt
Clinton sprach von "einem epochalen Triumph der Forscher".
Die Genomkarte sei "die wichtigste und wundersamste aller
Karten", ein Geschenk Gottes, mit dem Versprechen
ungeahnter Heilkräfte, sagte der US-Präsident in seiner Rede
im voll gepackten East Room des Weissen Hauses.
Gleichzeitig warnte er davor, die jüngsten
Forschungsergebnisse zu missbrauchen, um Menschen
auszugrenzen, zu diskriminieren oder deren Privatsphäre zu
verletzen. Alle Beteiligten im Weissen Haus waren sich am
Montag einig, dass trotz des historischen Durchbruchs auf die
Forscher noch viel Arbeit wartet. "Wir stehen", sagte Francis
Collins, "erst am Ende des Anfangs der Genomforschung."
Eine fast vollständige Karte vom Erbgut
Das menschliche Erbgut verliert seine Geheimnisse im
Eiltempo. Ein internationales Forscherteam legt nun
Daten hoher Qualität vor.
Von Helga Kessler
Mit Pressekonferenzen in Washington, Berlin, London, Paris
und Tokio feierten Wissenschaftler des internationalen
Human-Genom-Projekts (Hugo) gestern Montag, dass es
ihnen gelungen ist, das menschliche Erbgut zu 97 Prozent zu
entschlüsseln. Damit sind die Hugo-Forscher allerdings nur
Zweite in dem Wettrennen um die Kartierung des
menschlichen Genoms. Denn Craig Venter, Chef der
US-Firma Celera Genomics, hatte bereits Anfang April
verkündet, dass er das menschliche Genom zu 99 Prozent
entschlüsselt habe. Allerdings gab es damals heftige Kritik an
der Qualität der gelieferten Daten. Genau in diesem Punkt
wollen die Hugo-Forscher besser sein.
Klasse statt Masse
Sie hätten zwar mengenmässig weniger Daten, aber sie
wüssten, wie die gefundenen Abschnitte der DNS, der
Erbsubstanz, angeordnet seien, verkündeten die
Hugo-Forscher stolz. Und von den bekannten Abschnitten
würden sie wiederum von 85 Prozent die genaue Abfolge der
Basenpaare, aus denen die DNS aufgebaut ist, kennen. Damit
schreitet die Entschlüsselung des menschlichen Genoms
wesentlich schneller voran als ursprünglich geplant. War man
zu Beginn des Hugo-Projekts im Jahr 1990 noch davon
ausgegangen, dass die Arbeit erst im Jahr 2005 vollendet sein
wird, rechnen die Wissenschaftler nun damit, dass "die noch
vorhandenen Lücken bis zum Jahr 2003 oder früher
geschlossen werden". Damit würden sich auch die
ursprünglich geplanten Kosten für das Projekt von drei
Millionen US-Dollar erheblich reduzieren.
Dass es nun so rapide geht, liegt an der explosionsartig
angestiegenen Produktion von Daten mit hochmodernen
Sequenziermaschinen und Robotern, die erstmals von Venter
eingesetzt wurden. "Mehr als 60 Prozent der vorliegenden
Daten wurden in den vergangenen sechs Monaten produziert",
gaben die Hugo-Forscher in Berlin bekannt. Derzeit produziere
das Konsortium "1000 Basen Rohsequenz pro Sekunde,
sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag." Wie schon in
der Vergangenheit sollen sämtliche Daten öffentlich
zugänglich sein.
Auch in diesem Punkt unterscheidet sich das Hugo-Projekt
von demjenigen des Hauptkonkurrenten Venter. Seine Firma
gibt ihre Daten bislang nur gegen Geld heraus. Fünf
pharmazeutische Firmen bezahlen für den Service. Sie
erhoffen sich, wie die gesamte Forschergemeinde, dass die
Kenntnis von Genen dereinst zu neuen Behandlungswegen für
Krankheiten führen könnte. Viele Tausend Gene wurden
bereits gefunden, einige Dutzend konnten als Auslöser für
schwere Krankheiten bestimmt werden.
Die deutschen Hugo-Forscher warnen dennoch vor allzu
grosser Euphorie: "Bis zur Entwicklung neuer Medikamente
und Therapien zur Behandlung schwerer Krankheiten werden
noch 15 bis 30 Jahre vergehen." Denn die Hauptarbeit steht
den Forschern erst noch bevor: Mindestens 30 000 Gene,
vielleicht sogar 140 000, sollen den Menschen ausmachen.
Und jedem dieser Gene lässt sich ein Eiweiss zuordnen,
deren Zusammenspiel wiederum verstanden werden muss.
In London konnte das die Euphorie über die nun vorliegende
"Arbeitsversion" der Genomkarte allerdings nicht bremsen.
"Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist mit dem
ersten Menschen auf dem Mond verglichen worden, aber ich
glaube, es ist mehr als das", sagte Michael Dexter, Direktor
des britischen Wellcome Trust, einem der Sponsoren des
weitgehend mit staatlichen Geldern finanzierten Projekts.
Sogar die Erfindung des Rads sei weniger bedeutend. "Unsere
Gene machen schliesslich unser Menschsein aus", sagte
Dexter.
"Erbe der Menschheit"
Das hat Celera-Präsident Venter bislang nicht daran
gehindert, mehrere Tausend Genomschnipsel vorsorglich zum
Patent anzumelden. Sobald man weiss, ob sich dahinter
pharmazeutisch wertvolle Erbanlagen verbergen, will Venter
damit Geld verdienen. Über diese Praxis ärgern sich nicht nur
die Hugo-Forscher. Inzwischen gibt es sogar eine Idee, wie
man Venter und Konsorten stoppen könnte: Die Genomkarte
soll zum "Erbe der Menschheit" erklärt werden. Gefordert
haben dies Teilnehmer einer internationalen
Bioethik-Konferenz im spanischen Gijon, die am Samstag zu
Ende ging. Die 15 Punkte umfassende Erklärung soll der
Europäischen Union, dem Europarat, der
Uno-Kulturorganisation Unesco und allen Regierungen
zugeleitet werden. Noch wäre Zeit zum Handeln. Die
Geschichte der Genom-Entschlüsselung hat allerdings
gelehrt, dass die verbleibende Zeit kürzer sein könnte als
gedacht.
KOMMENTAR
Zwei Sieger
Von Helga Kessler
Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Vorübergehend
gab es bei dem Wettstreit, den sich die weitgehend staatlich
finanzierten Genomforscher des Hugo-Projekts und Craig
Venter mit seiner Firma Celera Genomics lieferten, tatsächlich
einen Nutzniesser: den wissenschaftlichen Fortschritt. Wäre
Venter mit seinem aggressiven Auftreten und seinen mit
neuester Technik ausgestatteten Labors nicht gewesen, hätte
sich die Genomforschung wohl die geplante Zeit gelassen und
gemütlich ihr Projekt zu Ende gebracht. Das hätte vielleicht
auch Vorteile gehabt. Aber es sollte nicht sein. Venter hat die
Hugo-Forscher massiv unter Druck gesetzt. Sie mussten sich
plötzlich gewaltig beeilen, um bei der Verteilung von Ruhm
und Ehre nicht leer auszugehen.
Venter hat aber nicht nur die Genomforschung beschleunigt,
sondern auch die Debatte über die ethischen Folgen dieser
Disziplin. Seine erfolgreiche Idee, mit Genen Geld zu machen,
hat vielen Menschen erst die Augen für die möglichen
negativen Auswirkungen eines "gläsernen Menschen"
geöffnet. Damit hat er die öffentliche Kritik am Tun der
Gentechniker gefördert, sicher ohne dies zu wollen. Ebenso
ungewollt hat er seine Kritiker mit Material versorgt, weil er vor
lauter Ehrgeiz, als "Vater der Genomkarte" in die Geschichte
eingehen zu wollen, Daten von mangelhafter Qualität vorgelegt
hat. Schliesslich hat er einseitig die Ergebnisse der staatlich
finanzierten Forschung genutzt, ohne andere von seinen
Resultaten profitieren zu lassen. Auch das ist weder
wissenschaftlich noch moralisch korrekt.
Wenn Venter nun gemeinsam mit den Hugo-Forschern auftritt,
um zu verkünden, dass man künftig gemeinsam
weiterforschen wolle, hat das für beide Seiten Vorteile. Venter
kann etwas für seinen angeschlagenen Ruf tun und damit die
Gewinnaussichten seines Unternehmens noch weiter steigern.
Im Gegenzug wird er seine Daten den Hugo-Forschern zur
Verfügung stellen müssen, kostenlos. So endet das
Wettrennen der Wissenschaftler, wie es fairerweise enden
muss: mit zwei Siegern.
Der Bund, Bern:
Menschliches Erbgut liegt offen
GENOM / Der gestrige Montag geht in
die Wissenschaftsgeschichte ein: Ein
privates und ein öffentlich finanziertes
Forscherteam haben gestern
gemeinsam die Aufschlüsselung der
menschlichen Erbsubstanz bekannt
gegeben - Ergebnis eines langen
Wettstreits.
sda. USA-Präsident Bill Clinton und der
britische Ministerpräsident Tony Blair
haben gestern angesichts der
weitgehenden Aufschlüsselung des
menschlichen Erbgutes dazu
aufgerufen, niemals die ethische
Verantwortung aus den Augen zu
lassen. Blair forderte in einer direkt aus
London ins Weisse Haus in Washington
übertragenen Erklärung, das neue
Wissen «weise zu nutzen».
Clinton verlangte: «Wir müssen
sicherstellen, dass die neue
Genforschung und ihre
Errungenschaften das Leben aller
Bürger der Welt besser machen, nicht
nur dasjenige weniger Privilegierter.»
Die Privatsphäre dürfe nicht verletzt
werden, und genetische Informationen
dürften nicht dazu benutzt werden,
Menschen zu stigmatisieren oder zu
diskriminieren. Clinton wertete die
«Blaupause des Genoms» als die
«wundersamste Karte in der
Menschheitsgeschichte».
«Einzigartiges Geschenk»
Zweieinhalb Monate nach den ersten
Erfolgsmeldungen des amerikanischen
Genforschers Craig Venter hat das
internationale Human Genome Project
(HGP) nach eigenen Angaben 97
Prozent des menschlichen Erbgutes
aufgeschlüsselt.
Vertreter des Zusammenschlusses
zahlreicher Forschungsinstitute
bezeichneten dies am Montag in London
als eine der grössten Leistungen der
Menschheit. «Die Aufschlüsselung des
menschlichen Genoms ist mit dem
ersten Menschen auf dem Mond
verglichen worden, aber ich glaube, es
ist mehr als das», sagte Michael Dexter,
der Direktor des britischen
Hauptsponsors Wellcome Trust. Die
aufgeschlüsselten Erbinformationen
würden der ganzen Welt zugänglich
gemacht; dies sei ein «einzigartiges
Geschenk an die Menschheit».
Langer Konkurrenzkampf
Das staatlich geförderte HGP hatte in
der Vergangenheit immer wieder seinen
Hauptkonkurrenten Venter kritisiert, der
sich die Entschlüsselung der Gene
patentieren lassen und damit viel Geld
verdienen will. Venters Unternehmen
Celera Genomics hatte schon im April
die Entschlüsselung des menschlichen
Erbgutes zu 99 Prozent verkündet.
Experten hielten dieses Ergebnis für
fragwürdig.
Ein grosser Schritt - aber der Weg ist noch lang
GENFORSCHUNG / Die Wissenschaftler
des Human Genome Project und der
privaten Firma Celera haben eine
Herkulesaufgabe gelöst. Allerdings sind
sie auch nach der gemeinsamen
Präsentation eines «vollständigen
Bauplans» des Menschen noch weit
davon entfernt, bald wirksame
Medikamente und Therapien gegen
Krankheiten wie Krebs, Rheuma,
Herzinfarkt, Alzheimer sowie
Behinderungen entwickeln zu können.
Und es wird noch eine Weile dauern, bis
das Modell vollständig überprüft und
verbessert ist.
• THOMAS SPANG, WASHINGTON
Die einen vergleichen die Ergebnisse der
Genom-Forscher mit der Landung auf
dem Mond, andere, wie USA-Präsident
Bill Clinton, versprechen «einen
kompletten Wandel der Medizin» durch
die Dechiffrierung des menschlichen
Genoms. Als das Human Genome Project
(HGP) vor zehn Jahren startete,
erwartete niemand, dass bereits im Jahr
2000 ein kompletter Satz des
menschlichen Genoms entschlüsselt
sein werde.
Denn immerhin galt es, mehr als drei
Milliarden Bausteine der menschlichen
Erbsubstanz DNA zu bestimmen und
innerhalb der 23 Chromosomen-Paare
anzuordnen. Unter der Federführung der
National Institutes of Health in
Washington und des Wellcome Trust in
Grossbritannien haben Forscher aus
aller Welt Bestandteile des
menschlichen Bauplans untersucht und
die Hauptergebnisse in einer Datenbank
der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Dort können heute Informationen über
50 000 Gene abgerufen werden (
http://www.nhgri.nih.gov/HGP ).
Privat und öffentlich
Dass gestern zwei Forscherteams
gemeinsam die Dechiffrierung der
menschlichen Erbsubstanz bekannt
machten, ist das Ergebnis eines langen
und erbitterten Wettbewerbs. An
dessen Beginn stand der Abschied J.
Craig Venters (siehe unten) vom
National Institute of Health. Venter
gründete das Unternehmen Celera und
konnte etwa 330 Millionen Dollar (545
Millionen Franken) an privatem Kapital
mobilisieren, um mit dem staatlichen
Human Genome Project in den
Wettbewerb zu treten. Celera kaufte
300 Sequenzer - Maschinen, mit denen
Abschnitte der DNA automatisch
analysiert werden können. Das HGP hat
davon weltweit nur 200 Einheiten im
Einsatz. Hinzu kommt die Investition
Celeras in den leistungsfähigsten
Computer der Welt. Mit dieser
Kombination konnte Celera täglich 140
Millionen Abschnitte des Genoms
aufschlüsseln.
Die mit dem dreifachen Budget
ausgestatteten Forscher des HGP
gerieten unter Zugzwang. Wohl mehr
aus Selbstschutz diffamierten einige
seiner Repräsentanten den findigen
Kollegen in Rockville und versuchten
seine Methode in Zweifel zu ziehen.
Der bittere Krieg der Worte wich einer
nüchterneren Betrachtung, als Venter
im April dieses Jahres ankündigte, alle
Teile des Genoms identifiziert zu haben.
Francis Collins, einer der führenden
Köpfe im Human Genome Project,
gratulierte Celera damals zum Sieg im
Wettlauf um die Bestimmung der
einzelnen DNA-Bestandteile, gab aber
zu bedenken, dass diese Teile nun wie
bei einem riesigen Puzzle noch in eine
Reihenfolge gebracht werden müssten.
Es sei deshalb sehr unwahrscheinlich,
«dass ein vollständiges, akkurates und
verlässliches Modell des menschlichen
Erbguts in Kürze vorliegt. Das wird auf
beiden Seiten noch einige Jahre
dauern.»
Historischer Montag
Auch damit lagen die Forscher des HGP
daneben. Denn nun liegt genau das vor:
ein vollständiger Bauplan der
menschlichen DNA. Craig Venter und
seine Kollegen präsentierten am Montag
ein «fertiges» Modell, die
Wissenschaftler der HGP eines, in dem
97 Prozent aller Abschnitte lokalisiert
sind. Die gemeinsame Präsentation
dokumentiert, dass die beiden Seiten
Frieden miteinander geschlossen haben
und künftig gegenseitig von ihrer Arbeit
profitieren wollen. Einig sind sich die
Forscher darin, dass es noch etwa ein
bis zwei Jahre dauern wird, ehe das nun
vorgestellte Modell einer vollständigen
Überprüfung und Verbesserung
unterzogen ist.
Dennoch geht dieser Montag in die
Wissenschaftsgeschichte ein. Richard
Gibbs, der für das HGP in Houston
forscht, vergleicht das Ereignis mit der
ersten Mondlandung 1969: «Es ist so
wie der Mann auf dem Mond, wie der
Beginn der industriellen Revolution.»
Craig Venter meint, nun werde die
Forschung erst richtig beginnen. «Es
wird wohl noch ein Jahrhundert dauern,
bis wir die mehreren Tausend Proteine
bestimmt, charakterisiert und
verstanden haben, die von den Genen
produziert werden.» Dessen ungeachtet
können sich die Wissenschaftler nun auf
die Untersuchung von Abweichungen
zwischen den Genen konzentrieren und
damit die Ursachen von Krankheiten
erklären.
Sind einst solche DNA-Abschnitte
identifiziert, können Medikamente
entwickelt werden. Eines fernen Tages,
so sagen Mediziner voraus, wird
vielleicht jeder Patient mit einer
Chipkarte herumlaufen, auf der alle
genetischen Informationen gespeichert
sind. Die Ärzte könnten dann «Medizin
nach Mass» verordnen. Auf jeden Fall
stehen hinter den Bemühungen der
Wissenschaft auch massive
wirtschaftliche Interessen. So soll
Celera bereits 6000 Genpatente haben.
Ausserdem vermarktet die Firma ihre
Ergebnisse bei der Pharmaindustrie. So
bietet Celera interessierten
Unternehmen ihre Datenbank in
mehrjährigen Verträgen zum
Abonnement an. Bisher sind Preise
zwischen fünf und fünfzehn Millionen
Dollar bezahlt worden.
Noch hat niemand den Schlüssel
GENOM / Die gewonnenen Daten allein
ergeben noch keine Erkenntnisse, sind
aber ungeheuer wertvoll. Als
Erklärungsversuch ein Vergleich mit dem
Eiffelturm.
• BERNHARD WENGER
Nun ist das menschliche Genom
entschlüsselt: Diese Meldung wird
weltweit für Furore sorgen. Und
unvermittelt taucht beispielsweise
wieder die alte Frage auf, wonach
Mensch und Schimpanse genetisch zu
99 Prozent identisch seien; man solle
nun bitte den Unterschied erklären. Die
Entschlüsselung des gesamten Genoms
bedeutet lediglich, dass man die
gesamte Masse der Gene und deren
Abfolge im Sinne einer Nummerierung
kennt.
Vergleich mit dem Eiffelturm
Weil die Gentechnik wirklich kompliziert
ist, muss man sich bei der Erklärung -
trotz allem Respekt für die Natur - auf
ganz einfache Modelle stützen. In
diesem Sinn könnte das menschliche
Genom behelfsmässig mit dem Eiffelturm
verglichen werden. Bei dessen
Erstellung musste vorerst einmal eine
ganz bestimmte Menge von Baumaterial
(Eisen, Stahl, Schrauben, Beton, Holz
usw.) herbeigeschafft, verarbeitet und
verwendet werden. Nebeneinander
aufgeschichtet, hätte diese
Ansammlung von Rohstoffen lediglich
eine hässliche Materialablage ergeben.
Nun hat aber seinerzeit ein genialer
Architekt einen entsprechenden Plan
gezeichnet; unzählige Mitarbeiter sind
an die Umsetzung gegangen, bis
wirklich ein Turm vorhanden war, den
heute noch jedes Kind sofort erkennt.
Nebst Reparaturarbeiten ist im Laufe
der Zeit auch die Umgebung des
Eiffelturms ständig angepasst worden.
Letzteres wären dann - umgesetzt auf
das menschliche Genom - die
Umwelteinflüsse.
Im Grunde genommen ist der Eiffelturm,
was seine Einzelteile betrifft, immer
noch nichts anderes als ein Haufen
Material. Wird er einst abgebrochen,
geht auch der ganze Zauber seiner
Erscheinung verloren. Ähnlich verhält es
sich auch beim vollständig
entschlüsselten Genom. Man kennt
jetzt das gesamte «Baumaterial».
Dieses ist von den Wissenschaftlern
fein säuberlich mengenmässig abgezählt
worden. Die Grobarchitektur des
Aufbaus eines menschlichen Organismus
ist auch schon teilweise bekannt. Aber
bei unzähligen Details ist es noch nicht
möglich, diese Abfolge von chemischen
Stoffen bestimmten Funktionen
zuzuordnen. Und auch
Differenzierungen, die sich
beispielsweise aus Veränderungen in der
Umwelt ergeben, können - abgesehen
von ausgewählten Beispielen - noch in
keiner Weise erfasst werden.
Dreidimensional
Wichtig ist in diesem Zusammenhang
auch die Architektur der Biomoleküle. In
dieser Hinsicht ist es dank der
Entschlüsselung des Genoms möglich,
die verschiedenen chemischen
Baustoffe gewissermassen zu messen,
zu wägen, ihre Zusammensetzung
genau zu bestimmen. Aber die Eiweisse,
die beim Aufbau und der Struktur einer
Zelle oder eines Organs eine
entscheidende Rolle spielen, sind nicht
«nur» eine Abfolge von chemischen
Stoffen, sondern diese haben in der
Regel eine dreidimensionale Struktur. Je
nachdem wie diese aussieht, verhält
sich auch das Eiweiss. Entsprechend
tritt es ganz unterschiedlich in Kontakt
zu anderen Stoffen. Auf diese Weise
entscheidet sich dann auch, ob
beispielsweise ein Medikament wirkt
oder ob eine Krankheit entsteht. Und
fachlich zwar nicht ganz korrekt, aber
trotzdem einleuchtend kann künftig
auch erklärt werden, weshalb bei
mehreren Kindern aus der gleichen
Familie Temperament, Nasenform und
Fleiss trotz bekanntem Bauplan so
unterschiedlich sein können.
Forscher im Wettlauf
GEMEINSAM / Nach einem teilweise
verbittert geführten Wettrennen wollen
nun die beiden Exponenten der
Genomforschung ihre Daten gemeinsam
veröffentlichen.
tsw. Craig Venter fällt in der Kantine
seines Unternehmens Celera in Rockville
nahe Washington nicht auf. Er trägt
Jeans und Poloshirts, seine 50
Mitarbeiter wissen auch so, warum sie
Respekt vor ihrem Chef haben. In
Amerika bekam der 52-jährige
Wissenschaftler den Titel «Herr der
Gene» verliehen: Ohne seinen Ehrgeiz
und den festen Glauben an ein
Verfahren, mit dem er sich dem
Widerspruch eines Grossteils der
etablierten Genforschung aussetzte,
brachte er das «Human Genome
Project» auf Trab. So kommt es heute,
dass beide Seiten das Ziel viel schneller
erreichten, als noch vor zehn Jahren
geplant.
Venter fand 1992 für das von ihm
entwickelte Genanalyse-Verfahren mit
Wallace Steinberg einen Investor, der
ihm half, ein eigenes Forschungsinstitut
zu gründen. Nach
Meinungsverschiedenheiten hatte er
sich aus einem Teilprojekt an den
National Institutes of Health in
Washington zurückgezogen. Die
Gründung von Celera und die
Zusammenarbeit mit Michael
Hunkapiller, dem führenden Hersteller
von Genanalyse-Geräten, führten zur
Installation des leistungsstärksten
Rechnersystems der Welt. Venter ist
aber nicht nur ein begabter
Wissenschaftler, sondern auch ein
cleverer Geschäftsmann.
sda. Francis Collins, Leiter des Human
Genome Project (HGP), steht bei seiner
Arbeit zur Erfassung und Typisierung
der menschlichen Erbanlagen stets im
Spannungsfeld zwischen Gewissen und
Wissenschaft. Er war ursprünglich
Chemiker. Später spezialisierte er sich
auf die Erforschung der menschlichen
Gene. An der Yale-Universität forschte
er auf dem Gebiet der Biochemie und
«entdeckte» dabei für sich die
Desoxyribonukleinsäure (DNS), in der
die Erbinformationen gespeichert sind.
Collins spezialisierte sich auf
Humangenetik und ging 1984 an die
Universität von Michigan. Elf Jahre
später wechselte er zu den Nationalen
Gesundheitsinstituten (NIH) der USA,
um die Leitung des öffentlich
geförderten Forschungsvorhabens zur
Erstellung einer Karte des menschlichen
Genoms zu übernehmen. An dem mit
drei Milliarden Dollar ausgestatteten
HGP-Gemeinschaftsprojekt sind
Institute in 18 Ländern beteiligt.
Früher Atheist, ist Collins heutzutage
tief gläubig. Er nutzt jede Gelegenheit,
auf die ethischen Risiken des
wissenschaftlichen Fortschritts
hinzuweisen.
Kommentar: VERANTWORTLICH NUTZEN!
• BERNHARD WENGER
Grundsätzlich ist die
Aufschlüsselung des
menschlichen Genoms als
historische Tat der
Forschung zu bezeichnen.
Gemeinsam und - was das
Tempo und die angewandte
Technik betrifft - in einem
beispiellosen Wettkampf ist
es den Wissenschaftlern
gelungen, die Bausteine des
menschlichen Erbguts in
ihrer Gesamtheit
aufzuschlüsseln.
Doch echte Freude mag
vorerst nicht so recht
aufkommen. Wir wissen
nämlich nicht, was in der
Folge mit dem errungenen
Wissen geschieht. Ohne
Zweifel steckt in den - im
Moment als riesige
Bibliothek imponierenden -
Daten
ein kaum vorstellbares
Potenzial. Häufig sehr hilflos
haben wir bis jetzt bei vielen
schweren Krankheiten deren
Ursachen nicht verstehen
und dementsprechend nicht
helfen können.
Nun haben die Forscher
tatsächlich den Schlüssel in
der Hand, nach und nach
hinter die Geheimnisse von
Leiden zu kommen, die auf
Störungen und Krankheiten
in den Genen beruhen.
Gleichzeitig bereitet die
offensichtliche Gier einiger
Labors, auf diesem Gebiet
Patente anzuhäufen, ebenso
Sorgen wie der Umstand,
dass die Erkennung
genetischer Leiden
gefährlich sein kann, falls
sie zur Ausgrenzung
betroffener Menschen führt.
Einmal mehr wird deshalb
ausschliesslich das
menschliche Verhalten
entscheiden, ob das neu
gewonnene Wissen uns auch
weiterbringt oder uns
schadet. Sicher wird es noch
lange dauern, bis die
genauen Funktionen der
jetzt aufgeschlüsselten Gene
bekannt sind.
Diese Zeit muss und kann
genutzt werden, indem die
Wissenschaftler den
ethischen Unterbau ihres
Tuns stärken, sich
beispielsweise konsequent
wehren, wenn Schwächere
wegen ihres Erbguts
diskriminiert werden. Ob der
Mensch nicht nur auf
technischem Gebiet, sondern
auch moralisch lernfähig ist,
wird der künftige Umgang
mit dem Erbgut zeigen.