Sonntagszeitung 06.09.1998

Die Angst der Versicherungen vor der Gentechnik

Die Schweizer Rück schlägt in einer Untersuchung Alarm

VON PETER KNECHTLI

ZÜRICH - Noch nie sagte es ein Versicherungsunternehmen so deutlich wie jetzt die Schweizer Rück: Die Risiken der Gentechnologie sind mit traditionellen Mitteln nicht mehr versicherbar.

Die schlichte Broschüre ist spielerisch mit japanischen Faltkunst-Fotos illustriert, der Titel ("Gentechnik und Haftpflichtversicherung") bleibt kleingedruckt und unterkühlt. Der Inhalt aber enthält Sprengstoff: Wenige Monate nach der Abstimmung über die Genschutz-Initiative schlägt die Schweizer Rück in Papierform Alarm.

Der Tenor: Den potentiellen Risiken der Gentechnologie ist mit den klassischen Haftpflicht-Versicherungsmodellen nicht mehr beizukommen: "Keine noch so hohe Versicherungsdeckung vermag das Risikopotential der Gentechnologie zu vermindern."

Im Fokus der schonungslosen Analyse stehen die Branchen Pharma, Agro und Ernährung, die Gentechnik überproportional einsetzen, gegen allfällige Gentech-Schäden aber meist nicht eigens versichert sind. Die Schweizer Rück will darum auf globaler Ebene nicht nur die Erstversicherer sensibilisieren, sondern "in zweiter Linie auch die Industrie und die Gesellschaft", so Autor Thomas Epprecht zur SonntagsZeitung.

Die Hauptgefahr der Gentechnik für die Versicherungsbranche liegt nach Meinung der Schweizer Rück darin, dass die politischen und rechtlichen Regeln plötzlich ändern können - das sogenannte Änderungsrisiko.

Positive Einstellung zur Gentechnik könnte blitzartig kippen

Die Meinung der Öffentlichkeit ist weltweit unberechenbar: Gentechnik in der Medizin wird von ihr eher akzeptiert als im Ernährungsbereich, obschon "die wenigen bisher aufgetretenen Gentechnik-Schäden" aus der Medizin stammten. Die Tendenz zum pragmatischen Umgang mit Gentechnik kann aber schon bei einem geringfügigen Schadenereignis "zum Kippen" gebracht werden.

Die unternehmerischen Gefahren, denen sich die Assekuranz durch die Gentechnologie ausgesetzt sieht, lauern auf verschiedensten Gebieten:

Allergische Reaktionen auf transgene Nahrungsbestandteile seien "prinzipiell möglich" und könnten in Form von Klagen Betroffener "weltweit zur versicherungsrelevanten Grösse anwachsen". Es könne aber nicht Aufgabe der Versicherungswirtschaft sein, Klagen zu befriedigen, die auf einen gesellschaftlichen Wertewandel zurückzuführen seien: "Dieses Risiko ist dem Unternehmerrisiko der Produzenten zuzuordnen."

Die Tendenz zur Umkehr der Beweislast in den europäischen Rechtsordnungen führt von der Verschuldungs- zur Kausalhaftung. Im Bericht steht dazu: "Wenn potentielle Kläger den Nachweis einer schuldhaften Nachlässigkeit oder Unterlassung nicht mehr erbringen müssen, ist damit zu rechnen, dass Schadenersatzforderungen erst recht überhandnehmen."

Die Übertragung von transgenen tierischen Organen auf den Menschen im Rahmen der Xenotransplantation könnte - "wären sich Medizin und Forschung dieser Gefahr nicht bereits bewusst" - versicherungstechnisch einen Serienschaden hervorrufen, "der nicht nur das ganze Krankenversicherungssystem aus den Angeln heben könnte".

Ungeschminkt räumt der Rück-Report ein, dass das Risikoprofil der Gentechnik "äusserst facettenreich und kaum antizipierbar" sei: Eine "direkte Antwort", wie heute Gentechnikrisiken versichert werden sollen, sei "heute nicht möglich".

Dass die Assekuranz mit den Grossrisiken der Gentechnik in der Luft hängt, bestätigt auch Giovanni Pelloni, Jurist bei Winterthur International. Das Problem liege darin, dass die Versicherungsprämien retrospektiv nach Erfahrungswerten berechnet werden - was im Bereich der neuen Biotechnologien nicht möglich sei. Eine Unsicherheit sei auch die gesetzliche Entwicklung der Haftpflicht: "Man weiss nicht, in welche Richtung es geht."

Unternehmen müssten künftig Risiken selber übernehmen

Den brisanten Report hat Pelloni bei sich noch ungelesen auf dem Pult liegen. Der Winterthur-Jurist sagt aber, Sensibilisierung hätten "nicht alle Erstversicherer in gleichem Mass" nötig. Auch die Assekuranz wisse "präzis, worum es geht".

Nur eine andeutende Antwort gibt der Bericht darauf, wie die Grossrisiken finanziert werden können. Autor Epprecht glaubt nur, dass die Unternehmen "an der Unschärfe des gentechnologischen Risikoprofils mittragen" sollten. Epprecht: "Wir wollen nicht an sich einen höheren Preis, sondern den richtigen."

Was die Broschüre neutral als "alternative Risikofinanzierung" bezeichnet, kann in der Praxis nur eines bedeuten: Die risikoträchtigen Unternehmen werden künftig stärker zur Kasse gebeten. Thema in den von der Rück angeregten Debatten sind allerdings auch innovative Finanzierungsmodelle, in denen das Risiko zum Anlage-Gegenstand wird. Diese Mischprodukte von Bank- und Versicherungslösungen sind jedoch so hochkomplex, dass die von der SonntagsZeitung befragten Kenner für detaillierte Erklärungen passen mussten.

"Man spielt als Anleger Lotto", umschreibt ein Haftpflicht-Insider um so bildhafter eine mögliche Finanzierung hoher Risiken der Zukunft: Anleger investieren in Risiko-Obligationen. Tritt kein Schaden ein, wächst der Ertrag - kommt es zum Gentech-Schadenfall, wird er auch für die Investoren zum Debakel.